Mittwoch, 14. Februar 2018

Sei Sand im Getriebe

Diesen Beitrag schiebe ich schon lange vor mir her, immer in der Hoffnung, sein Thema erledige sich in der Zwischenzeit. Leider tut es das nicht. Seit einem Jahr ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in der Türkei inhaftiert.

Im April 2017 erfuhr ich, dass es Menschen gibt, die ihm regelmäßig Postkarten schreiben. Ich bewundere die Kraft, die das Fräulein Read On dabei an den Tag legt: Seit 334 Tagen schreibt sie jeden Tag eine Karte. Ich bin froh, wenn meine Kraft morgens zum Aufstehen reicht, deswegen schreibe ich seltener, viel seltener.

Postkarte vom 8. Februar über Hamburg an der Nordsee.
Aber warum überhaupt Postkarten an Deniz Yücel oder an andere politische Gefangene schreiben, wenn völlig unklar ist, ob sie die jemals bekommen? Ganz einfach: Die Bürokratie, die damit beschäftigt ist, Postkarten zu verwalten, kommt in der Zeit, in der sie sich mit Postkarten beschäftigt, nicht dazu, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.

Im Idealfall geht der Bürokratie dadurch ein Mensch durch die Lappen, den sie lieber hinter Gittern sähe, oder kommt ein Verwaltungsbeamter ins Grübeln, welchem Staat er da eigentlich dient. Zumindest ist die Verwaltung erst mal beschäftigt, Postkarten zu verwalten.

Ich weiß nicht, wie es in türkischen Amtsstuben aussieht. Ich kenne nur deutsche Amtsstuben, aber die kenne ich vergleichsweise gut. Der Beamtentriathlon ist immer noch Knicken, Lochen, Abheften. Und glaubt mir, aus eigener Erfahrung weiß ich: Das gilt auch für Postkarten.

Es macht jeder Verwaltung unwahrscheinlich viel Freude, Postkartenaktionen zu bearbeiten. Jede Postkarte löst einen Verwaltungsakt aus, um so mehr, wenn sie nicht in der jeweiligen Amtssprache, im Falle Yücel also Türkisch, geschrieben ist, denn bevor die Postkarte den Beamtentriathlon absolvieren kann, muss sie übersetzt werden. Man muss ja wissen, worum's geht, ob man evtl. tätig werden, antworten muss, ob Ungemach dräut. Selbst wenn keine Postkarte jemals Deniz Yücel erreichen sollte, beschäftigt jede Postkarte doch erstmal viele Menschen, vom Briefträger über die Poststellen in den Behörden bis zum Gefängnisdirektor.

Eine Postkarte kann man noch ignorieren, aber die 334 Postkarten vom Fräulein Read On plus die der anderen, die mehr oder weniger regelmäßig an Deniz Yücel und andere politische Gefangene schreiben, die ergeben schon einen ordentlichen Berg, der sich nicht so einfach ignorieren lässt. Jede einzelne Karte signalisiert: Der Mensch, den ihr da inhaftiert habt, der ist nicht vergessen.

Wie leicht es sein kann, einen gut geölten Verwaltungsapparat ins Stocken zu bringen, lernte ich von meinem lieben Freund und Weggefährten Wolf. Eigentlich heißt er Kurt, aber so nannten ihn eigentlich nur die Behörden. Wolf war sein Kampfname, Wolf riefen ihn Freunde und Weggefährten. Wölfchen nannten ihn seine beiden Frauen.

Wolf war Hamburger und Jude, Mitglied einer deutsch-jüdischen Jugendbewegung. Er ging 1933 in den Widerstand. So stand er beispielsweise Schmiere, als Freunde die Parole "Hitler bedeutet Krieg" an einem Weg zwischen Eppendorfer Landstraße und Martinistraße malten. Das mag erst mal als keine große Aktion erscheinen, aber Schmiere stehen war eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn hätte Wolf nicht aufgepasst, wären alle verhaftet worden.

Und Schmierestehen in Kombination mit einem kritischen Geist, insbesondere, wenn der Besitzer dieses kritischen Geistes zusätzlich auch noch Jude ist, reicht für eine Verhaftung. Im Mai 1936 wurde der 21jährige Wolf verhaftet und wegen "Vorbereitung des Hochverrats" angeklagt. Im Januar 1937 wurde er verurteilt, verbüßte seine Haftstrafe in Fuhlsbüttel und konnte nach England emigrieren, wo er seine erste Frau, ebenfalls eine gebürtige Hamburgerin, kennenlernte. 1946 kehrten sie nach Hamburg zurück.

Verhört wurde Wolf im berüchtigten Stadthaus, dem Gestapo-Hauptquartier am Neuen Wall. Zu den vielen Folterungen und Mißhandlungen dort gehörte auch das stundenlange Stehen in den langen weiß getünchten Behördenfluren, vor der so genannten Spiegelwand. Nein, sie wurde nicht so genannt, weil dort Spiegel hingen, sondern weil die Inhaftierten so lange bewegungslos mit dem Gesicht zur Wand stehen mussten, dass sie das Gefühl hatten, dort ihr eigenes Gesicht wie im Spiegel zu sehen.

Eines Tages, als Wolf wieder mal zu einem Verhör geführt wurde, stand eine Gruppe Frauen rechts und links an den Flurwänden. Eine der Frauen drehte sich um und bat den Beamten, der Wolf zum Verhör bringen sollte, um Zettel und Stift: "Ich stehe hier schon so lange, mein Mann macht sich Sorgen. Ich möchte ihm ein paar Zeilen schreiben, damit er weiß, wo ich bin."

Während der Beamte noch damit beschäftigt war, das Ungeheuerliche - eine Gefangene spricht ohne Aufforderung, äußert eine Bitte, gibt's dafür überhaupt eine Vorschrift, ich muss doch meinen Gefangenen zum Verhör führen, was mache ich jetzt bloß - zu verarbeiten, drehten sich auch andere Frauen um und baten um Zettel und Stift, um eine Nachricht an ihre Angehörigen zu schicken.

Der Beamte schwitzte inzwischen sicher schon Blut und Wasser, und als wäre das noch nicht genug, öffneten sich nun auch die Bürotüren, eine nach der anderen, guckten die anderen Beamten auf den Flur, wollten wissen, was da los ist, warum Wolf nicht pünktlich zum Verhör erscheint.

An dieser Stelle schien es immer ein wenig so, als hätte Wolf Mitleid mit den Beamten, die von einer einfachen Frage aus dem Konzept gebracht wurden. Einzige Möglichkeit, die Lage wieder in den Griff zu kriegen, war in diesem Moment, den Frauen Zettel und Stift zu geben, damit sie ihren Angehörigen schreiben konnten.

"Den Mut dieser Frauen habe ich unendlich bewundert", sagte Wolf jedes Mal, wenn ich ihn ins ehemalige Stadthaus begleitete, wo er Schulklassen und Jugendlichen seine Geschichte erzählte. "Die Frage nach so etwas Harmlosem wie Zettel und Stift hat in diesem Moment die gute geölte Verwaltungsmaschinerie ins Stocken gebracht und denen, die in den Kellern und Büros verhört und gefoltert wurden, eine kurze Atempause beschert. Was diese Frauen geleistet haben, kann ich nicht vergessen!"

Auch wenn Wolf nie die Namen dieser Frauen in Erfahrung bringen konnte oder ob ihre Nachrichten jemals aus dem Stadthaus herauskamen, sorgte er doch dafür, dass sie nicht vergessen wurden.

Bei jeder Postkarte, die sich auf den Weg nach Silivri macht, denke ich an diese Frauen, an Wolf und an ein Getriebe, das knirschend einen kurzen Moment zum Erliegen kommt. Eines Tages, da bin ich mir sicher, wird so viel Sand im Getriebe sein, dass die Maschine durchbrennt. Möge dieser Tag bald kommen!

Falls Du mehr über Wolf erfahren möchtest, empfehle ich Dir das Buch "Eine verschwundene Welt: Jüdisches Leben am Grindel*", das nur noch antiquarisch erhältlich ist.

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